Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen

in: Politik und Wirtschaft: Ein integratives Kompendium, hrsg. v. K. Mause, Ch. Müller u. K. Schubert u. Springer-Verlag 2018, 89-113; Ko-Autor: J. Zweynert

Abstract

Die Analyse der Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung hat in Politik- und Wirtschaftswissenschaft nicht nur eine lange Tradition, sondern erlebt derzeit auch eine lebhafte Renaissance. Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über die früheren und heutigen Beiträge zu dieser Thematik. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Forschungen an der Schnittstelle von Wirtschafts- und Politikwissenschaft. Darüber hinausgehend bemühen wir uns, eine Erklärung dafür zu finden, warum das Interesse an dem hier behandelten Thema im historischen Zeitablauf auffälligen Schwankungen unterliegt. Unsere diesbezügliche These lautet: Immer dann, wenn das Verhältnis von politischem und ökonomischem System dynamischen Veränderungen unterliegt, steigt das Interesse am Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen; immer dann, wenn das Verhältnis der beiden gesellschaftlichen Subsysteme relativ stabil ist, beschäftigen sich Politikwissenschaftler und Ökonomen eher damit, was innerhalb „ihres“ jeweiligen Systems vor sich geht.

Einleitung

Der vorliegende Beitrag verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Zum einen wollen wir überblicksartig darstellen, wie Politikwissenschaftler und Ökonomen jeweils über das Themengebiet „Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen“ denken und schreiben. Zum anderen – und darauf liegt unser Schwerpunkt – wollen wir jene „polit-ökonomischen“ (also an der Schnittstelle beider Disziplinen angesiedelten) Theorieansätze näher beleuchten, die sich mit den Zusammenhängen zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung befassen. Solche Ansätze haben in Politikwissenschaft wie Volkswirtschaftslehre nicht nur eine lange Tradition, wie etwa in der klassischen Politischen Ökonomie (Adam Smith, John Stuart Mill, Karl Marx), im Historismus oder in der deutschen Ordnungsökonomik, die sich vor allem mit dem Problem   der „Interdependenz“ der politischen und wirtschaftlichen Ordnung befasste. Sondern derartige Ansätze erleben derzeit durch Autoren wie Daron Acemoglu und James A. Robinson (2006; 2012) oder Douglass C. North, John J. Wallis und Barry R. Weingast (2009) derzeit auch eine lebhafte Renaissance. Unsere These lautet: Dieses Revival polit-ökonomischen Theoretisierens ist kein Zufall, sondern dem Umstand geschuldet, dass wir in einer historischen Phase leben, in der das Verhältnis von Wirtschaft und Politik besonders dynamischen Veränderungen unterliegt. Diese Veränderungsdynamik lenkt die Aufmerksamkeit sowohl von Politik- als auch von Wirtschaftswissenschaftlern an die Schnittstellen der Systeme. Grundsätzlich scheint zu gelten: Immer dann, wenn das Verhältnis von politischem und ökonomischem System „in Bewegung“ ist, intensiviert sich auch die inter-disziplinäre Analyse der auf diese beiden Erkenntnisobjekte spezialisierten Disziplinen; immer dann, wenn das Verhältnis der beiden gesellschaftlichen Subsysteme stabil ist, beschäftigen sich Politikwissenschaftler und Ökonomen eher damit, was innerhalb „ihres“ jeweiligen Systems vor sich geht.

Das Kapitel gliedert sich im Wesentlichen chronologisch wie folgt: Im folgenden zweiten Abschnitt behandeln wir die Ko-Evolution von Wirtschaft und Gesellschaft und die wissenschaftliche Analyse ihres Verhältnisses von der Industriellen Revolution bis zur Großen Depression der 1930er Jahre. Der dritte Abschnitt befasst sich mit den sozialistischen Ordnungen und der Systemtransformation. Der vierte Abschnitt ist dem „Goldenen Zeitalter“ des wohlfahrtstaatlichen Kapitalismus (1960er bis 1980er Jahre), der Diversität marktwirtschaftlicher Ordnungen und der Globalisierung gewidmet. Der fünfte Abschnitt schließlich behandelt die heutigen Schnittstellendiskurse über wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen.

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Aktuelle Schnittstellendiskurse: Von disziplinären zu transdisziplinären Bruchlinien?

Im heutigen interdisziplinären Diskurs über Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen lassen sich zwei Strömungen unterscheiden, die in gewisser Weise an die beiden Erklärungsansätze institutionellen Wandels von Douglass C. North anschließen. Während die in den 1960er und 1970er Jahren entstandene „Neue Institutionenökonomik“ heute weitgehend von der Mikroökonomik absorbiert worden ist, hat sich ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine ökonomische Denkrichtung etabliert, die sich aus einer Makroperspektive mit Institutionen als Determinanten von Wachstum und Entwicklung beschäftigt (etwa: Hall/Jones 1999; Rodrik/Subramanian/Trebbi 2004). Charakteristisch für diesen Ansatz ist erstens ein relativ enger Institutionenbegriff, der sich weitgehend auf formelle Institutionen (wie etwa Eigentumsrechte, die Rule of Law, das Wahlrecht) beschränkt, und zweitens ein Streben nach analytischer Rigorosität, das sich in einer stark formalisierten Sprache und dem Bestreben ausdrückt, die aufgestellten Hypothesen ökonometrisch zu überprüfen. Vor allem dank der für diese Richtung wegweisenden Beiträge des Ökonomen Daron Acemoglu und des Politologen James A. Robinson hat sich hier ein genuin polit-ökonomischer Diskurs entwickelt, im Rahmen dessen Ökonomen und Politologen auf Grundlage einer einheitlichen Methodik forschen. Das wohl bisher wichtigste Ergebnis dieser in normativer Hinsicht zumeist eher liberal ausgerichteten Forschung besteht in der Neuformulierung der bereits bei den Autoren der Freiburger Schule um Franz Böhm und Walter Eucken, bei Douglass C. North und bei Mancur Olson thematisierten Interdependenz von wirtschaftlicher und politischer Ordnung. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, unterscheiden Acemoglu und Robinson in ihrem jüngsten Buch „Why Nations Fail“ (2012) zwischen „extraktiven“ und „inklusiven“ Ordnungen. Der entscheidende Punkt lautet dabei: Dort, wo politische Herrschaft monopolisiert ist, liegt es regelmäßig im Interesse der Herrscher, Innovationen gezielt zu unterdrücken, weil die damit verbundene „kreative Zerstörung“ (Schumpeter) nicht nur wirtschaftliche Pfründe, sondern auch die Herrschaft der politischen Elite destabilisieren könnte.

Der zweite interdisziplinäre Diskurs kreist stärker um jene informellen Bestimmungsgründe von Wandlungsprozessen wie mentale Modelle, historische und kulturelle Vermächtnisse und religiöse Prägungen, wie sie bereits in den Historischen Schulen, im älteren Institutionalismus und bei Douglass C. North in seinem späteren Werk behandelt worden waren. Nachdem es auch in der Ökonomik in den 1990er Jahren eine Diskussion um die Bedeutung „weicher“ Faktoren für institutionellen Wandel gegeben hatte (etwa Greif 1994; Denzau/North 1994; Keefer/Knack 1997) wurde er in den 2000er Jahren immer stärker von den hier erstgenannten Ansätzen überlagert, die den entscheidenden Vorteil haben, kompatibler mit den in der Ökonomik vorherrschenden quantitativen Methoden zu sein. So waren es vor allem Politikwissenschaftler und Soziologen, die – vor allem im Rahmen der bereits erwähnten „New Political Economy“ – den Diskurs über die Bedeutung informeller Institutionen für Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen fortführten (stellvertretend: Streeck/Thelen 2005). Als ein besonders dynamischer Zweig hat sich dabei die Diskussion über „Ideen und institutionellen Wandel“ erwiesen, die bisweilen zu der Forderung geführt hat, ein gesondertes Forschungsfeld, den sogenannten „ideationalen“ oder „konstruktivistischen“ Institutionalismus zu etablieren (Blyth 2002; Beland/Cox 2011; Hay 2006; Schmidt 2008). Auch in diesem qualitativ-historisierenden Zweig institutioneller Forschung zeigt sich in allerjüngster Zeit zumindest die Tendenz ab, dass Ökonomen und Sozialwissenschaftler Fächergrenzen überwinden und einen gemeinsamen Diskurs etablieren. Ein Anzeichen dafür ist die 2014 erfolgte Gründung des „World Interdisciplinary Network for Institutional Research (WINIR)“. Bemerkenswert ist, dass die Initiative zur Gründung des Netzwerks von dem heterodoxen Institutionenökonomen Geoffrey Hodgson ausging – wohl der Einsicht folgend, dass das eigene Forschungs-programm innerhalb der eigenen Disziplin immer weniger anschlussfähig ist. Und Dani Rodrik, einer der derzeit bedeutendsten Entwicklungsökonomen hat sich mit einem ebenfalls aus dem Jahr 2014 stammenden Papier „When Ideas Trump Interests: Preferences, Worldviews, and Policy Innovations“ eindeutig an den sozialwissenschaftlich dominierten Diskurs über „weiche Faktoren“ wirtschaftlicher Entwicklung angeschlossen.

Angesichts der hohen Tempos des weltweit zu beobachtenden institutionellen Wandels und aufgrund der jüngsten Krisenerfahrungen ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Ordnung heute sowohl für Wirtschafts- als auch Politikwissenschaftler hochgradig aktuell. Das gilt offenkundig auch für den Gegenstand des ersten Methodenstreits (vgl. Louzek 2011), die von Walter Eucken so bezeichnete „Antinomie“ zwischen deduktiv-theoretischer-quantitativer und verstehend-historisierend-qualitativer Erforschung gesellschaftlicher Ordnungen und ihres Wandels, von denen die erste Richtung stärker nach allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten fragt und die zweite eher an den spezifischen Bestimmungsgründen institutionellen Wandels interessiert ist. Aus unserer Sicht ist es faszinierend zu beobachten, dass die Grenzen zwischen den jeweiligen Lagern zunehmend nicht mehr zwischen den Disziplinen verlaufen, sondern mitten durch sie hindurch. Diese Beobachtung muss aber dahingehend abgeschwächt werden, dass zum heutigen Zeitpunkt das erstgenannte Lager innerhalb der Ökonomik eindeutig dominant ist und dass die Volkswirtschaftslehre diesen Diskurs bei aller Interdisziplinarität in methodischer Hinsicht klar dominiert. Und innerhalb des zweitgenannten, historisierend-qualitativen Lagers gilt umgekehrt, dass die Ökonomen in diesem Diskurs rein zahlenmäßig in der Minderheit sind und die vorherrschenden Methoden – jedenfalls dann, wenn man von der Methodologie der modernen VWL ausgeht – eher als sozial- denn als wirtschaftswissenschaftlich zu charakterisieren sind.

Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der interdisziplinäre Diskurs über Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen heute mit großer Intensität geführt wird. Das Interesse an den Zusammenhängen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft findet neben der reinen Forschung auch darin seinen Ausdruck, dass sich interdisziplinäre Studienprogramme an den Schnittstellen von Philosophie, Politik und Ökonomik weltweit wachsender Beliebtheit erfreuen.