Symbolische Orientierungsleistungen und -erwartungen in postsowjetischen Gesellschaften

Workshop des Kompetenznetzes  „Institutionen und institutioneller Wandel im Postsozialismus“, München 21.-22.11.2014

Empirische Studien zur Politischen Kultur in Russland und anderen postsowjetischen Staaten haben beobachtet, dass politische Meinungen und Präferenzen stärker durch Wertvorstellungen geleitet werden als durch persönliche Alltagserfahrungen oder ökonomische Interessen. Dieses Phänomen wurde damit erklärt, dass viele Bürger/-innen die materiellen Konsequenzen ihrer Wahlentscheidungen nicht antizipieren können, da keine politischen Parteien mit kohärenten Programmen und klaren Handlungsalternativen existieren. Stattdessen dominiere die Polarität von Staatsmacht und Opposition. Nach dem Ende des staatssozialistischen Systems herrsche große Unsicherheit über gesellschaftliche und politische sowie nationale und moralische Leitbilder; zudem sei die politische Agenda durch Grundsatzfragen statt durch inkrementale Adjustierungen wie in den westlichen Demokratien geprägt.

Diese Erklärungsansätze legen die Vermutung nahe, dass instabile intermediäre Institutionen auch die politischen Eliten veranlassen, ihre öffentliche Kommunikation an Wertvorstellungen statt an pragmatischen Gesichtspunkten oder Zweckmäßigkeiten auszurichten. Die symbolischen Orientierungsleistungen der Eliten scheinen insofern mit den Orientierungserwartungen in der Bevölkerung verbunden.

Seit etwa 2012 lassen sich in Russland jedoch zwei Veränderungen feststellen. Zum einen formierte sich eine breite Protestbewegung, die von vielen Beobachtern als Repräsentation der neuen urbanen Mittelschichten bestimmt und damit als unterscheidbare gesellschaftliche Gruppe mit relativ homogenen Wertvorstellungen verortet wurde. Zum anderen bezog sich der russische Präsident in seinen programmatischen Reden in größerem Maße als früher auf die russische Nation, Tradition und Identität. In dieser Kontinuität wurde die Annexion der Krim als patriotischer Akt nationaler Gerechtigkeit dargestellt und von vielen befragten Russen/-innen begrüßt.

Vor diesem Hintergrund diskutierte der Workshop das Verhältnis von symbolischen Orientierungsleistungen und -erwartungen. Bezeichnen die Veränderungen seit 2012 das Ende der postsowjetischen Übergangszeit verunsicherter Leitbilder und die institutionelle Konsolidierung eines autoritären Regimes? Oder setzen sie die wertlastige Kommunikation fort, die schwache Institutionen ersetzte? Falls diese Kontinuität überwiegt, wie reflektieren konservativ-nationalistische Rhetorik und Politik die zunehmende Differenzierung und Pluralisierung der russischen Gesellschaft? Inwieweit reagieren der Präsident und die herrschende politische Elite auf veränderte Orientierungserwartungen in der Bevölkerung und inwieweit versuchen sie diese zu transformieren? Mit welchen Methoden lässt sich das Verhältnis von symbolischen Orientierungsleistungen und -erwartungen erforschen?

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