Ein Gutachten für das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit
Montenegro strebt einen Beitritt zur EU sowie zur NATO an. Seine politischen Eliten unterstützen, wie die Mehrheit der Bevölkerung, die dafür notwendigen ökonomischen und rechtsstaatlichen Reformen. Ein Teil der Oppositionsparteien lehnt einen NATO-Beitritt hingegen ab, boykottiert seit September 2015 die Parlamentsarbeit und veranstaltet seitdem regelmäßige öffentliche Protestaktionen, um die Regierung zum Rücktritt zu bewegen. Die pluralistische Medienlandschaft erfüllt demokratische Öffentlichkeits- und Kontrollfunktionen, auch wenn private Medienorgane um ihr finanzielles Überleben kämpfen. Nicht-Regierungsorganisationen tragen mit zur Realisierung gesellschaftlicher und politischer Reformen bei und übernehmen bei der Formulierung alternativer policies auch Funktionen der Oppositionsparteien.
Schattenseiten der jahrzehntelangen Herrschaft der seit 1990 ununterbrochen regierenden Demokratischen Partei der Sozialisten (DPS) sind u.a. mutmaßliche Kontakte der Regierung zur organisierten Kriminalität, verbreitete Korruption und Klientelismus. Trotz Gesetzesreformen ist es bisher nicht gelungen, die klientelistischen Praktiken der Wählerbindung wirksam einzuschränken. Die Strafverfolgungsbehörden haben bisher nur in wenigen politischen Korruptionsfällen ermittelt; kein führender Politiker wurde jemals verurteilt. Wachsende Auslandsschulden, ein anhaltend hohes Leistungsbilanzdefizit, zunehmende notleidende Kredite und die Folgekosten gescheiterter Privatisierungen gefährden zudem die finanzielle Stabilität Montenegros. Die Koalition zwischen der DPS und der zweitgrößten Regierungspartei ist u.a. hieran im Januar 2016 zerbrochen; die Regierung konnte jedoch ihre Parlamentsmehrheit mit Hilfe von Oppositionsstimmen erhalten.
Für die mittelfristige politische Entwicklung Montenegros lassen sich drei Szenarien skizzieren.
- Die seit Jahrzehnten regierende DPS gewinnt (allein oder in Bündnissen mit der BS oder zusätzlich mit der Partei Positives Montenegro (PCG) auch die Parlamentswahlen 2016. Die neue Regierung setzt die Vorbereitung auf den EU-Beitritt fort. Neue Verhandlungskapitel werden geöffnet, aber die zu ihrer einvernehmlichen Schließung notwendigen administrativen, ökonomischen und politischen Anpassungs- und Reformmaßnahmen erfolgen langsam und zögerlich. Auch Governance-Strukturen und ‑Mechanismen verändern sich nur inkrementell und unter der Kontrolle der herrschenden Eliten. Die Opposition setzt nach ihrer erneuten Wahlniederlage ihre außerparlamentarischen Kampagnen fort, und ein Teil der Opposition radikalisiert sich zunehmend. Straßenproteste münden in vereinzelte gewaltsame Zusammenstöße.
- Die Wahlen 2016 werden von der neu gegründeten Demos und anderen Oppositionskräften gewonnen. Diese bilden zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei eine Koalitionsregierung der linken Mitte. DPS-Gefolgsleute werden auf allen Schlüsselpositionen ersetzt, an den klientelistischen Governance-Strukturen ändert sich nichts. Uneinigkeit innerhalb der Regierung – das nationalkonservative Lager favorisiert eine außenpolitische Annäherung an Russland – und mangelnder Reformwille bremsen den Beitrittsprozess zur EU. Die ökonomische Stagnation führt zu wachsenden inneren Konflikten, die neben der sozioökonomischen auch eine ethnopolitische Gestalt annehmen.
- Die aus einem breiten, in den Parlamentswahlen 2016 siegreichen Oppositionsbündnis hervorgehende Mitte-Links-Regierung initiiert radikale gesellschaftliche Reformen. Gescheiterte Privatisierungen und korruptionsverdächtige Immobiliengeschäfte während der DPS-Regierungszeit werden gerichtlich überprüft und sanktioniert. Die neue Regierung beschleunigt die Beitrittsverhandlungen mit der EU, geht energisch gegen Reformwiderstände und Status quo-Interessen vor und realisiert bedeutende Infrastrukturprojekte. Verbesserte rechtsstaatliche und ökonomische Rahmenbedingungen führen überdies zu einem dynamischen Anstieg ausländischer Direktinvestitionen. Ein einsetzendes Wirtschaftswachstum läßt Beschäftigung und Lebensqualität nachhaltig steigen.
Ersteres Szenario erscheint als das realistischste, weil die DPS aus ihrer Regierungsposition heraus, mit ihrem Führungspersonal und ihrer politischen Erfahrung einen großen Wettbewerbsvorteil besitzt. Sie verfügt nicht nur über genaue Kenntnisse der lokalen politischen Verhältnisse und Akteurskonstellationen, sondern auch über zahlreiche Möglichkeiten zur Manipulation des Wahlkampfes und des Urnengangs. Außerdem erscheint es gegenwärtig nur schwer vorstellbar, dass sich die Oppositionsparteien auf ein gemeinsames politisches Programm einigen, das mehr konkrete politische Ziele böte als den bloßen Wechsel der Regierung. Die Protestaktionen mehrerer Oppositionsparteien lassen sich in diesem Kontext auch als Strategie zur politischen Profilierung gegenüber den konkurrierenden neuen Oppositionsparteien deuten. Schließlich bevorzugt auch die internationale Staatengemeinschaft mit der DPS einen Kooperationspartner, der die regionale Stabilität nicht gefährdet, auch wenn dieser in seiner innerstaatlichen Herrschaftspraxis öffentliche Ämter und Zwecke nicht klar von privaten bzw. parteipolitischen Interessen trennt.