Demokratisierungsprozesse und ihre Akteure

Ein Überblick zum Stand der Theoriebildung

in: Protest im langen Schatten des Kreml. Aufbruch und Resignation in Russland und der Ukraine, hg. v. O. Zabirko und J. Mischke, Stuttgart: Ibidem 2020, 17-36

Seit den Übergängen zur Demokratie in Ostmitteleuropa 1989/90 ist eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur zur Demokratisierung entstanden. Diese Arbeiten haben die Bedingungen, Verlaufsmuster und Ergebnisse von Demokratisierungsprozessen rekonstruiert und im Ländervergleich analysiert. Sie sind bisher jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, dass man eine bestimmte Anzahl von Akteurkonstellationen und Strategien benennen könnte, die für die Errichtung und Konsolidierung demokratischer Institutionen notwendig und hinreichend sind. Während modernisierungstheoretische Studien die für eine stabile Demokratie erforderlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturbedingungen hervorhoben, betrachteten Studien zu den lateinamerikanischen und südeuropäischen Demokratie-Übergängen Abkommen (“Pakte”) zwischen Reformern innerhalb der herrschenden Elite und moderaten Oppositionsführern als die entscheidenden Weichenstellungen für die neue Demokratie. Die spätere Forschung argumentierte dagegen, dass stabile Demokratien sich nicht aus Kräftegleichgewichten bildeten, sondern dort, wo demokratische politische Akteure über die Kräfte des autoritären Regimes triumphierten.

Die offensichtliche Konsolidierung von politischen Regimen, die weder als vollständige Demokratien, noch als vollständige Autokratien zu bezeichnen waren, führte seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu einer Renaissance strukturtheoretischer Ansätze. Aus Sicht dieser Erklärungsversuche sind Staatlichkeitskonflikte, sozioökonomische Bedingungen oder kulturelle Hinterlassenschaften wesentlich wichtiger für einen Regimewechsel als die Aktivitäten politischer Eliten.

Regierungs- und Regimewechsel infolge von Massenprotesten veranlassten die Vertreter akteurtheoretischer Ansätze seit den 2000er Jahren dazu, organisierten und mobilisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Im Fall der Ukraine, aber auch in Serbien, Georgien, Kirgisien und einigen arabischen Ländern veränderten diese Akteure die Kräfteverhältnisse zwischen herrschenden und oppositionellen Eliten zugunsten der Opposition. Eine wachsende Zahl von Studien versucht auch, Annahmen über gesellschaftsstrukturelle Veränderungen und zum Verhalten von Akteuren miteinander zu verknüpfen. Dieser Forschungsstrang hat sich vor allem mit der politischen Rolle privater Unternehmer sowie mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik beschäftigt.

In den folgenden Abschnitten werden wichtige Befunde der Demokratisierungsforschung kurz skizziert und diskutiert. Aus dieser Diskussion lässt sich folgern, dass die Debatte zwischen akteurs- und strukturtheoretischen Ansätzen sich einerseits auf Demokratisierungstheorien zu bewegt, die Strukturbedingungen und Akteurstrategien zu kombinieren versuchen. Andererseits werden die unterschiedlichen Stabilitätsbedingungen autoritärer Regime zunehmend als Faktoren einbezogen, um Varianten von Demokratisierungspfaden zu erklären.

Paper: Demokratisierungstheorien